Uve Kirsch

BÜCHER: SCHAUM

LESEPROBE

Nachtfahrt nach Moskau

Der Sturm blies kleine harte Eiskristalle schmerzhaft in mein Gesicht. Ich drehte mich ab und der dicke Mann im Wintermantel führte mich hastig zu einem bereit stehenden Wolga M - 21. Der Doktor kletterte vor mir auf die Rückbank, von der anderen Seite stieg ebenfalls eine kleine Person zu, deren Gesicht mir verborgen blieb, da ein mit Pelz besetzter Mantelkragen jeden Einblick versperrte. Wir schlingerten auf weichen Stoßdämpfern durch die eisige windige Nacht und rutschten auf eingeschneiten Straßen auf einen hellen Schein am Horizont zu. Moskau. Niemand sagte etwas, nur der dicke Mann auf dem Beifahrersitz tuschelte ein paar Worte mit der Person auf der Rückbank. Eine warme weibliche Stimme sagte: "Ich bin Irina Schenskowa. Ich arbeite im Schussev-Museum für Architektur. Ich spreche ein wenig Deutsch und werde übersetzen. Sollen wir die Heizung etwas hoch drehen?" Die Scheiben waren vor Feuchtigkeit beschlagen, das Gebläse im Fond hielt einen schallplattengroßen Radius frei. Ich nickte. Das Ventilatorgeräusch wurde lauter.
 
Dunkle Ungetüme, gekreuzte Pfosten, haushoch, schwarz und bedrohlich erhoben sich links und rechts der Straße. Riesige Panzersperren, stilisiert als Denkmäler. "Was ist das?", fragte ich den Doktor, von dem ich wusste, dass er seit Tagen die Reiseführer über Moskau studiert hatte. Er stützte seinen Kopf zwischen seine beiden Hände und starrte gebannt nach vorne. "Das markiert die Linie, bis zu der die Wehrmacht im Winter 1941 in Richtung Moskau vorgedrungen ist."
 
"Jetzt bin ich weiter gekommen als mein Vater", tuschelte ich zum Doktor und er lachte kurz auf. Schlagartig war es still im Wagen. Der Mann auf dem Beifahrersitz murmelte eine Frage. Die Dolmetscherin reagierte abwiegelnd, worauf ein bedrohlich klingender Kommentar vom Beifahrersitz erklang. Die Dolmetscherin murmelte etwas sehr leises, es schien, als sei es ihr unangenehm. Die Spannung im Wagen war greifbar. Der Doktor stupste mich an. Gerade wollte ich "Das war nur ein kleiner Scherz!" als Entschuldigung hinterher schieben, da wurde der Mann auf den Beifahrersitz nachdrücklich und sehr deutlich. Ich schwieg. Die Dolmetscherin sagte etwas in kurzen, abgehackten Worten. Ihr war es peinlich, meinen Kommentar übersetzen zu müssen. Mir auch. Die Miene des Ministeriumsbeamten verfinsterte sich.
 
Bis zur Einfahrt zum Rossija-Hotelkomplex am Roten Platz wurde kein Wort mehr im Wagen gewechselt.
 
Blassgelbe Kristallglaskugeln baumelten zu Dutzenden von der Holzdecke des Hotelfoyers und verbreiteten den diskreten Charme von Urinsteinen, an die sie farblich erinnerten. Ich schob meine Füße durch einen wiesenhohen Teppichboden in einer unangenehmen bräunlichen Farbe und hatte jetzt eine präzise Vorstellung vom Weltniveau des realsozialistischen Industriedesigns. Das hier war das erste Hotel am Platze, groß wie ein Häuserblock, das Aushängeschild der UdSSR. Hier sollten sogar die Hotelnutten fest angestellt sein und innerhalb der diesbezüglichen Szene einen hohen Rang einnehmen, hatte mich der Doktor vorher unterrichtet und dabei verschwörerisch gegrinst. In langgestreckten Reihen von flachen mit Cord bezogenen Sesseln lümmelten sich Besucher, zumeist aus den Gebieten, die rechts an die Europakarte in meinem Diercke-Schulatlas grenzten. Ein paar sehr attraktive Frauen waren auch darunter. "Ich müsste mir dringend mal einen Globus kaufen", schoss mir durch den Kopf. Die Kapuze der Dolmetscherin diente uns in der Menge als Orientierung und sie bugsierte uns bis zum Empfangstresen.
 
Sie legte einige Papiere auf den Tisch, der Portier sagte etwas, dann wendete sie sich wieder an uns: "Ihre Ausweise bitte, das ist notwendig für die Anmeldung." Ich gab ihr meinen und konnte einen ersten Blick auf ihr Gesicht nehmen. Eine niedliche Stupsnase lugte hervor. Das war schon deutlich besser als die Foyergestaltung. Der Portier nahm die Ausweise, schrieb etwas in ein großes Buch, füllte zwei Fragebögen aus, die er uns zur Unterschrift vorlegte. Der Fragebogen war komplett auf Kyrillisch. Echt witzig. "Wie viele Waschmaschinen kaufen wir denn?", scherzte der Doktor fade und die Dolmetscherin rang sichtbar um Fassung. "Er möchte gern wissen, was wir da unterschreiben!" schob ich erklärend hinterher, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen. Waschmaschinen waren ein hohes Luxusgut in der Sowjetunion. Und unser Humor war äußerst gewöhnungsbedürftig. Sie entspannte sich. "Das sind Fragen zum Zwecke ihrer Reise. Ich habe die Antworten schon eintragen lassen."
 
"Danke sehr", antwortete der Doktor. Ich war mir nicht sicher, ob er sich vom Wodka schon restlos erholt hatte oder einfach nur Späßchen machen wollte. Der Portier steckte unsere Ausweise in eine Ledermappe und diese dann in einen Schlitz in der Tresenplatte. Wir hörten ein entferntes dumpfes Aufprallgeräusch. Die Pässe waren weg. Ich schaute die Dolmetscherin fragend und leise zweifelnd an. Sie verstand es und fragte den Portier. Der antwortete und sie übersetzte: "Für ihre Sicherheit."
 
"Aha", kommentierte der Doktor. Raus kamen wir hier jetzt nicht mehr so ohne Weiteres. "Vielleicht sollten wir uns benehmen", ergänzte er. Ich fühlte mich plötzlich sehr einsam und klein. Wir bekamen zwei Schlüssel ausgehändigt und die Dolmetscherin führte uns zu der Batterie von Aufzügen. Die jungen Damen in den Cordsesseln bedachten uns mit einem kalten, kontrollierenden Blick, wie Katzen, die Mäuse beobachten. Hellwach und gelangweilt gleichzeitig. Mit einem leisen "Pfummp" schloss sich die Tür und wir fuhren sanft nach oben. Aus den Lautsprechern tönte leise Marschmusik, dazu wurde inbrünstig gesungen. "Was ist das?", fragte ich sie. Sie hörte einen Moment schweigend zu und antwortete: "Das Lied heißt Tri Tankista. Die drei Panzersoldaten."
 
Im Augenwinkel sah ich, wie sich der Doktor abwendete und sich vor Lachen den Mund zuhielt. Er stieg im fünften Stock aus und verschwand immer noch grinsend mit seinem Rollkoffer in der Hand.
 
Sie begleitete mich zu meinem Zimmer im 8. Stock, an der Tür verabschiedete sie sich mit einem Lächeln, das für vieles entschädigte.
 
Das Zimmer sah aus wie der Wartesaal in der sowjetischen Botschaft, nur kleiner. Der einzige Sessel hatte einen Breitcordbezug in einem organischen gelben Beigeton und der Teppich war von einem gruseligen Grün. Über dem breiten Bett hing ein ausdrucksstarkes Bild von einem Birkenwäldchen vor einem Sumpf. Rechts unten erkannte ich zwei Enten. Der Spiegel im Flur verlor seine rückseitige Beschichtung und hatte schwarze Stellen an den Rändern und in der Mitte auf Kopfhöhe. Den Doktor würde das Umbringen. Alles wirkte wie aus einem Einrichtungshaus für Spießer direkt aus den vierziger Jahren. Dieses Design konnte schwere Depressionen auslösen. Der gestalterische Höhepunkt waren die Nachttischleuchten, die den Zeitgeschmack der Vorkriegsära falsch interpretierten und ihm ein neues sozialistisches Kleid gaben. Hätte man die Fenster öffnen können, ich schwöre, ich wäre gesprungen. Aber da hatte jemand auf einfache Weise vorgesorgt. Die Fenster hatten keine Griffe.
 
Die Heizung stand auf Maximum und ließ sich ebenfalls nicht regulieren. Im Bad gab es gar keinen Lichtschalter, es war also immer hell. Wie praktisch. Zur Sicherheit prüfte ich, ob man wenigstens das Licht im Zimmer selbständig an- und ausschalten konnte. Man konnte. Immerhin. Der resopalbezogene Spanplatteneinbauschrank in Nussbaumoptik quietschte und klemmte und roch muffig. Das Bett war angenehm durchgelegen und in der Mitte der Mattratze war eine Mulde deutlich zu erkennen. Das also sollte mein Zuhause für die nächsten Tage werden? Wenigstens bezahlen musste ich für diese Butze nicht, das machte der Club. Den Wodka und die Toblerone stellte ich auf den runden Beistelltisch aus dunklem Holz, auf dem ansonsten ein technisches Gerät thronte, in dem ich ein Fernsehgerät zu erkennen glaubte. Ich holte mir einen angelaufenen gläsernen Zahnputzbecher aus dem kleinen Bad, setzte mich in den Cordsessel und goss mir einen Wodka ein. Den hatte ich jetzt verdient. Ich suchte nach dem Einschaltknopf am Fernsehapparat und betätigte der Reihe nach eine größere Anzahl von Drehschaltern, die in Kyrillisch beschriftet waren. Wenn ich am ersten Schalter links drehte, passierte nichts. Drehte ich am zweiten Schalter, knisterte es leicht, es gab einen Blitz und dann passierte wieder nichts. Als ich am ersten und am dritten Schalter gleichzeitig drehte und danach beide festhielt, erschien erst ein Schneegestöber, dann ein krisseliges Bild, dann waren Konturen zu erkennen. Ich fand raus, dass man die Schärfe des Bildes verbessern konnte, wenn man den mittleren Drehknauf drehte und dabei gleichzeitig einen seitlichen Schieberegler betätigte. Endlich sah ich klarer, wenn auch nur in Schwarzweiß und mit leichtem Schneegestöber, denn ganz scharf bekam ich das Bild nicht. Den Ton fand ich neben dem Schärferegler. Kleine Menschen in Uniformen hasteten durch einen Dschungel. Jemand mit einer großen Mütze schrie jemanden mit einer kleineren Mütze in einer Sprache an, die ich nicht verstand. Die Untertitel waren auf Kyrillisch. Entspannt legte ich mich zurück in meinen Sessel, genoss den Wodka und schaute einen vietnamesischen Kriegsfilm mit kyrillischen Untertiteln in schwarzweißem Schneegestöber. Willkommen in Mütterchen Russland.
Schaum
ISBN: 978-3-7380-8102-2
Veröffentlichung: 19.08.2016
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